Der Philosoph und der Quantenphysiker oder Ist die Wirklichkeit wirklich wirklich?

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Stellen wir uns zwei Personen im Kaffeehaus vor. Später Donnerstagnachmittag. Wenige Kunden. Der Quantenphysiker bestellt einen Kleinen Braunen, der Philosoph bestellt einen Verlängerten. Der Kellner schreit „Zwei Kaffee“ in die Küche. Oder schreit er doch die genaue Bestellung? Bestellen sie wirklich Kaffee? Sind sie überhaupt beide da? Ist vielleicht die gesamte Wirklichkeit so undefinierbar, dass die Grenzen einer Person so verschwimmen, dass es genauso gut nur einen Quantenphilosophen geben könnte?

Auch wenn diese Gedanken zunächst oberflächlich und gekünstelt erscheinen, ist die Frage „Ist die Wirklichkeit wirklich wirklich?“ unausweichlich, wenn die Physik an die Grenzen des Begreifbaren stößt und der Mensch es trotzdem verstehen will. Diese Grenzen werden häufig durch die Quantenmechanik in Frage gestellt. Beispielsweise besagt sie, dass wir den Ort eines Teilchens nur definieren können, wenn wir ihn messen, aber wir können nicht wissen – also messen -, wo dieses Teilchen war, bevor wir es tatsächlich gemessen haben. Der Ort des Teilchens wurde dadurch definiert, dass wir den Ort gemessen haben. An welchem Ort also soll das Teilchen vor der Messung gewesen sein? Das passt nicht so recht in unser Weltbild. Deshalb hat die Menschheit eine Reihe von Interpretationen der Quantenmechanik – bei denen wie in unserem Kaffeehaus Philosophie auf Physik trifft – konstruiert, um aufzuschlüsseln, auf welche Weise dieses komplizierte Thema unsere Sicht der Welt tatsächlich beeinflusst.

  1. Der realistische Ansatz erscheint uns als der einfachste und der Einzige, der mit unserem Weltbild nichts Gröberes anstellt. Dieser Ansatz beantwortet unser Beispiel folgendermaßen: Das Teilchen war an dem Ort, an dem es gemessen wurde. Der Haken an diesem Weltbild liegt jedoch darin, dass die Quantenmechanik als unvollständig herauskommt. Denn wenn das Teilchen tatsächlich am selben Ort war, bevor wir es gemessen haben, die Quantenmechanik das aber nicht vorhersagen kann, ist die Lücke offensichtlich. Diese Lücke bezeichnet man auch als „verborgene Variable“, also eine zusätzliche Information, die die Quantenmechanik vervollständigen würde. Dies war unter anderem die Ansicht Albert Einsteins.
  2. Den entgegengesetzten Ansatz liefert der Agnostiker. Hierbei wird das Beispiel so erklärt: Es gibt keine zulässige Antwort darauf, wo sich das Teilchen vor der Messung befunden hat. Außerdem ist die Fragestellung nach diesem Weltbild auch vollkommen hinfällig, da man metaphysische Aussagen über Dinge zu machen versucht, bevor man sie eben gemessen hat. Diesen Ansatz vertrat unter anderem der Physiker Wolfang Pauli und im Allgemeinen ist der agnostische Ansatz wohl am ehesten ein demütiges Ausweichmanöver. Man lässt sich gleichzeitig auf die eigene Unwissenheit ein und bewertet die Fragestellung als irrelevant oder nicht von Nöten, da man so und so keine richtige Antwort parat haben kann.
  3. Der begabteste Weltbildveränderer unter den drei behandelten Deutungen ist sicherlich die Orthodoxe Sichtweise, auch genannt die Kopenhagener Deutung. Hierbei wird das Beispiel schlicht damit geklärt, dass sich das Teilchen an keiner bestimmten Stelle befunden hat, bevor es gemessen wurde. Erst die Messung definierte einen Ort für das Teilchen, während es zuvor gewissermaßen nicht an definiertem Ort und Stelle festgesetzt war. Dies wird versucht zu erklären durch den sogenannten „Kollaps der Wellenfunktion“, der durch die erste Messung herbeigeführt wird und verursacht, dass sich das Teilchen stark am gemessenen Ort lokalisiert, weil sich die Wellenfunktion, die das „freie“ Teilchen beschreibt, um den Ort der Messung lokalisiert und somit auch das Teilchen dort aufzufinden sein muss. Diesen Ansatz vertrat vor allem der Physiker Niels Bohr.

Eben dieser sagte einmal: „Es ist falsch zu denken, dass es die Aufgabe der Physik ist, herauszufinden, wie die Natur ist. Die Aufgabe ist vielmehr, herauszufinden, was wir über die Natur sagen können.“ In diesem Sinne versucht die Quantentechnologie, das ewige Interpretieren hinter sich zu lassen und die Vorteile neuer Erkenntnisse zu nutzen. Beide Herangehensweisen, praxis- und weltbildorientiert, sind sicherlich von Bedeutung, und vielleicht kann der Mensch die Horizonterweiterung, die Veränderung der Sichtweisen und die Nutzung der Forschung gleichzeitig meistern. Die Welt ist höchstwahrscheinlich so viel mehr, als wir uns vorstellen können. Wie Anton Zeilinger, Vortragender beim 14. Workshop der Science Academy NÖ Weltraum, es formuliert: „Die Welt ist alles, was der Fall ist, und auch alles, was der Fall sein kann.“

 

English version:

The Philosopher and the Quantum physicist or Is reality really real?

Let’s imagine two people at a Café. Late Thursday afternoon. Few customers. The Quantum physicist orders an Espresso, the Philosopher orders a Latte Macchiato. Or do they really order coffee? Are they even both there? Maybe all of reality is so undefinable that the borders of what a person is are so blurred that there might as well only be a Quantum philosopher?

Even though these thoughts seem superficial and stilted at first, the question “Is reality really real?” is unavoidable when Physics reaches the limits of the understandable and humans still want to understand. These limits are frequently challenged by Quantum mechanics, which tells us for example that we can only define the place of a particle when we measure it, but we cannot know – ergo measure – where this particle was before we actually measured it. The location of the particle was defined by our very measuring the location. So where exactly was the particle before we measured it? This doesn’t comply to our comfortable worldview. Thus, humanity has constructed a number of interpretations of Quantum mechanics – in which philosophy meets physics like at the Café – in order to break down in which ways this complicated topic actually influences our view of the world.

  1. The realistic approach seems to be the simplest and the only one that doesn’t do anything gross with our world view. This approach answers our example by stating that the particle was at the place where it was measured. The catch with this world view, however, is that Quantum mechanics would be deemed incomplete. Because if the particle was actually at the same place before we measured it, but Quantum mechanics cannot predict it, the flaw is obvious. This flaw is also called the „hidden variable“, i.e. additional information that would complete the theory. This was the view of Albert Einstein, among others.
  2. The opposite approach is provided by the agnostic. Here the example is explained as follows: There is no admissible answer as to where the particle was before the measurement. In addition, according to this world view the question asked in the example is also invalid, since it aims to make metaphysical statements about things before one has measured them. This approach was advocated by the physicist Wolfang Pauli, among others, and in general the agnostic approach is probably most likely a humble evasion. One accepts one’s own ignorance while at the same time evaluating the question as irrelevant or not necessary, since one cannot have a correct answer anyway.
  3. The most gifted changer of worldviews among the three interpretations discussed here is certainly the Orthodox view, also called the Copenhagen Interpretation. Here, the example is simply clarified by the fact that the particle was not in a certain place before it was measured. Only the measurement defined a place for the particle, whereas it was not fixed in a defined place beforehand, so to speak. This is attempted to be explained by the so-called „wave function collapse“, which is brought about by the first measurement and causes the particle to localise strongly at the measured location, because the wave function describing the „free“ particle localises around the location of the measurement and thus the particle must also be found there. This approach was advocated above all by the physicist Niels Bohr.

The same physicist once said: „It is wrong to think that it is the task of physics to find out what nature is like. The task is rather to find out what we can say about nature.“ In this sense, Quantum technology tries to leave all things interpretational behind and exploit the benefits of new findings. Both approaches, practical and philosophical, are most certainly of importance, and maybe humans can master broadening our horizons, changing our views and putting research into use all the same time. The world is most likely so much more than we can imagine. As Anton Zeilinger, speaker at the 14th Workshop of the Science Academy NÖ Space Course, puts it: „The world is all that is the case, and also all that can be the case.“